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Unterstützte Kommunikation, Raumaufteilung, gemischte Wohngruppen: In der Casa Sei der Martin Stiftung gibt es einige Besonderheiten, von denen Bewohner mit Autismus profitieren.

Die Zeitschriften sind exakt Kante auf Kante gestapelt, die Schuhbänder liegen perfekt parallel, in der Geschirrspülmaschine hat jeder Teller seinen Platz: Im Wohnhaus Casa Sei der Martin Stiftung hat alles eine besondere Ordnung, denn hier leben vor allem Menschen mit Autismus.

Wohnhausleiter Valentin Gmelin (28) erzählt, was die Casa Sei besonders macht.

Wer wohnt in der Casa Sei?

Bei uns leben 14 Menschen, etwa die Hälfte sind Autisten. Die anderen haben kognitive und körperliche Beeinträchtigungen, einige haben psychische Erkrankungen. Wir sind keine Wohngruppe nur für Menschen mit Autismus. Das hat den Vorteil, dass die zwischenmenschliche Interaktion und das Sozialverhalten gefördert werden. Bei reinen Autismus-Wohngruppen ist die Tendenz zur Isolation stärker. Auch Geschlecht und Alter sind sehr gemischt, von 20 bis 67 Jahren. Begleitet wird die Gruppe von zwölf Fachpersonen. Im Erdgeschoss und im ersten Stock haben wir vollbetreute Wohngruppen, im zweiten Stock teilbetreute.

Was zeichnet euer Wohnkonzept noch aus?

Die Raumaufteilung entspricht den Bedürfnissen dieser Menschen. Wir haben sehr kleine Wohneinheiten mit drei bis vier Personen im gleichen Haushalt. Diese sind auf mehrere Stockwerke aufgeteilt. Dadurch können wir sehr individuell auf die Bewohnerinnen eingehen, obwohl die Casa Sei eine grosse Wohngruppe ist. Vor allem für Autisten ist dies positiv. Es gibt weniger Reize und überfordernde Situationen.

Wie äussert sich Autismus?

Autismus kann man niemandem ansehen. Er zeigt sich in der sozialen Kommunikation, Interaktion und dem sozialen Verständnis. Manche Autisten haben Inselbegabungen, können zum Beispiel sehr gut rechnen oder haben ein fotografisches Gedächtnis. Zudem haben sie eine andere Wahrnehmungsverarbeitung, Denkweise und Problemlösungsstrategie.

Was heisst das konkret?

Ironie, Humor, Mimik: Vieles, was Teil unserer Kommunikation ist, verstehen Autisten nicht. Sie können die Emotionen zwischen den Zeilen nicht lesen, nehmen sie verzögert oder anders wahr. Auch für uns alltägliche Abläufe wie Duschen oder Zähneputzen machen für Autisten oft keinen Sinn. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam mit ihnen einen Weg für ein Zusammenleben zu finden.

Was ist für die Zusammenarbeit wichtig?

In erster Linie eine gute Beziehung. Wir orientieren uns auch an Methoden der «Unterstützten Kommunikation» wie dem «TEACCH-Konzept». Diese helfen Menschen mit Autismus, sich im Alltag zu orientieren, und uns bei der Kommunikation mit ihnen. Konkrete Beispiele sind der detaillierte Plan für den Tagesablauf oder Bilder für jeden einzelnen Schritt im Bad. Klare, gleichbleibende Abläufe sind wichtig, sie geben Halt und Sicherheit. Gleichzeitig üben wir, dass das Leben nicht planbar ist. Dafür müssen wir in der Begleitung die richtige Mischung zwischen Struktur und Flexibilität finden.

Was passiert, wenn das nicht klappt?

Auf überfordernde Situationen reagieren Autisten unterschiedlich. Einige verschliessen sich, möchten allein sein oder halten sich die Ohren zu. Andere werden laut, haben Wutausbrüche, werfen Gegenstände, schlagen die Zimmertür auf und zu, verletzen sich oder sind sogar für eine Weile nicht mehr ansprechbar. All dies zählt zum herausfordernden Verhalten.

Was könnt ihr dann noch tun?

Erstmal nicht viel. Wir schauen, dass keine andere Person in Mitleidenschaft gezogen wird, dann warten wir ab. Je nach Person kann auch eine paradoxe Intervention helfen, wenn ich zum Beispiel etwas völlig Unerwartetes tue und auch die Tür zuschlage. Danach führen wir Gespräche. Unser Ziel ist, dass sie sich selbst und andere besser kennenlernen und neue Lösungsstrategien entwickeln. Die Erfahrungen der Casa Sei werden nützlich sein für die geplanten Angebote für Menschen mit Autismus und herausforderndem Verhalten im Neubau Rütibühl.

Was ist Autismus?

Autismus ist keine Krankheit, sondern eine genetisch und neurologisch bedingte Entwicklungsstörung und Wesensart, insbesondere im Bereich der Wahrnehmung. Weitere Informationen: autismus.ch

Das Interview ist erschienen im Jahresbericht 2019 der Martin Stiftung

Bild: Unsplash