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Es ist eine gute Nachricht: Die Lebenserwartung von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung steigt. Aber leider auch das Risiko, an Demenz zu erkranken. Deshalb ist für die Betroffenen mit einer demenziellen Entwicklung eine besondere Begleitung gefragt.

Fortschritte in der Betreuung, gesundheitliche Versorgung, bessere Förderung: Vor allem sie machen es möglich, dass Menschen mit Beeinträchtigung immer älter werden. Doch diese erfreuliche Entwicklung bringt neue Herausforderungen mit sich. So nimmt das Risiko zu, im Alter an Demenz zu erkranken. Bei Menschen mit Trisomie 21 sind es rund 90 Prozent, die häufig bereits ab Mitte 40 eine demenzielle Entwicklung aufweisen.

Der Unterschied zwischen Demenz und demenzieller Entwicklung

Demenz ist eine kognitive Störung, die geistigen Fähigkeiten nehmen ab und beeinträchtigen das tägliche Leben. Die bekannteste Form von Demenz ist die Alzheimer-Demenz. Durch das kontinuierliche Absterben von Nervenzellen werden die betroffenen Menschen zunehmend verwirrt, vergesslich und orientierungslos. Mehr Infos zur Demenz in Leichter Sprache.

Eine Demenz kann durch Tests klar diagnostiziert werden, zum Beispiel durch die Mini-Mental-Status-Untersuchung (MMS) oder den Uhrentest. Aber diese Tests sind nicht für alle Menschen gemacht, zum Beispiel nicht für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Ohne den Test ist eine eindeutige Diagnose nicht möglich. Fehlt die Diagnose, obwohl es demenzähnliche Symptome gibt, wird statt von Demenz von einer demenziellen Entwicklung gesprochen.

Symptome: Wie sich die demenzielle Entwicklung bemerkbar macht

Erkranken Menschen ohne Behinderung an Demenz, sind die ersten Symptome Vergesslichkeit oder Verwirrtheit. Bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zeigt sich die demenzielle Entwicklung oft an sekundären Symptomen, auf der emotionalen Ebene.

Sie weinen, schreien oder werden scheinbar grundlos aggressiv. Bei Menschen mit Trisomie 21 kann es zudem vermehrt zu epileptischen Anfällen kommen. Dies kann zu einer «diagnostischen Überschattung» führen, die Symptome werden häufig der Behinderung zugeordnet und nicht einer beginnenden Demenz.

Generell sind Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer kognitiven Defizite nicht in der Lage, ihre Not zu benennen. Deshalb fallen die Reaktionen oft sehr heftig aus: Ohnmachtsgefühle, diffuse Ängste oder auch starke Aggressionen können die Folge sein.

Eingang zur Martin Stiftung. In der Martin Stiftung finden Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung einen Wohn-und Arbeitsplatz.

Neue Betreuungsplätze für Menschen mit einer demenziellen Erkrankung

Die Martin Stiftung sammelt seit 20 Jahren viel Erfahrung im Umgang mit älteren Menschen mit Behinderung. Es wurden differenzierte Angebote entwickelt, die speziell auf die Lebenssituation von Senioren und Seniorinnen angepasst sind.

Im Neubau Rütibühl wird es deshalb unter anderem eine vollbetreute Wohngruppe für 10 Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und Demenz geben sowie eine vollbetreute Wohngruppe für Senior/innen mit Behinderung. Eine auf ältere Menschen ausgerichtete Tagesstruktur sieht zum Beispiel auch einen Seniorenclub mit angepasstem Beschäftigungsprogramm vor.

Wertvolle Erfahrungen

Schon heute sammelt eine Wohngruppe der Martin Stiftung wertvolle Erfahrungen in der Betreuung von Menschen mit demenzieller Entwicklung. Wohngruppenleiterin Kirsten Radtke betont: «Menschen mit einer demenziellen Entwicklung brauchen viel Begleitung. Sie sind auf klare Strukturen und immer gleiche Abläufe angewiesen, denn diese bieten Halt und Sicherheit.

Kirsten Radtke und ihr Team versuchen die sechs Frauen in ihrer Wohngruppe dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Oft zeigt sich die Krankheit in undefinierbaren Ängsten, die Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung kaum benennen können. In ihrer Überforderung verweigern sie sich oder werden laut. In der Martin Stiftung werden diese Ängste ernstgenommen und es wird auf sie eingegangen. Dies erfordert nicht nur eine grosse Präsenz, sondern punktuell auch eine Eins-zu-eins-Betreuung.

4 Gründe, warum Menschen mit Behinderung und demenzieller Entwicklung nicht im Altersheim wohnen sollten

  1. Viele der älteren Menschen leben seit vielen Jahren in der Martin Stiftung. Nicht wenige von ihnen sind als junge Menschen in die Institution eingetreten. Die Stiftung ist ihr langjähriges Zuhause und die sinngebende Tagesstruktur ist speziell auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet.
  2. Zudem werden sie von Fachpersonen mit spezifischem sozialpädagogischem Wissen in der Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung betreut. Dieses Wissen und die Erfahrung sind wichtige Grundpfeiler der langjährigen Beziehungsarbeit.
  3. Menschen mit demenzieller Entwicklung äussern ihre Not ganz anders als Menschen ohne Behinderung. Die Reaktionen sind emotionaler und können sehr heftig ausfallen.
  4. Zudem muss die in der Seniorenbetreuung wichtige Biographiearbeit bei Menschen mit Behinderung anders angegangen werden. Viele ältere Menschen mit Beeinträchtigung haben im Laufe des Lebens Traumatisches erlebt. Sie wurden als Kinder gehänselt oder ausgeschlossen. Solche Ereignisse kommen mit der demenziellen Entwicklung wieder ins Bewusstsein.

Dadurch haben diese Menschen einen anderen Unterstützungsbedarf. Das Personal in einem Altenheim kann dies nicht leisten. Nötig sind auch sozialpädagogisch geschultes Fachpersonal und eine andere Form der Beziehungsarbeit.

Die Geschichte von Karin L.: Warum es Orte wie das neue Rütibühl der Martin Stiftung braucht

Karin L. hat Trisomie 21 und wohnt seit 1976 in der Martin Stiftung. Seit April 2020 wohnt die 63-Jährige in einem Wohnhaus der Martin Stiftung in Meilen. Sie wird in einer Wohngruppe betreut, in der mehrere Frauen mit einer demenziellen Entwicklung wohnen.

Zuvor lebte Frau L. mehrere Jahre in einer Wohngruppe für Senioren mit Pflegebedarf im belebten Haupthaus der Stiftung und besuchte tagsüber das Seniorenatelier.

Laut der Leiterin vom Seniorenatelier war Karin L. in den Anfangszeiten sehr aktiv. Hier war für sie Vieles möglich: Bewohner/innen aus anderen Wohngruppen treffen, kreative Tätigkeiten wie töpfern, basteln oder stricken, gemeinsame Ausflüge in der Gruppe und mit dem Fachpersonal oder in Einzelbegleitung mit einer freiwilligen Helferin. Frau L. zeigte vielschichtige Seiten ihres Wesens und ihr Lachen war ansteckend und fröhlich.

Die demenzielle Entwicklung beginnt

Mit der Zeit verschwanden die Worte immer mehr. Der Tag-Nacht-Rhythmus veränderte sich. Jede noch so kleine Veränderung schien Frau L. zu beunruhigen. Die Begleitung wurde immer intensiver, es brauchte zunehmend sozialpädagogisches Fachwissen und interdisziplinäre Vernetzung, da die Teams immer öfter mit Störungen konfrontiert wurden, die nicht einfach einzuordnen waren. Frau L. fiel durch häufiges Schreien und Weinen auf, zwischendurch verweigerte sie sich und schaltete komplett auf stur. Dabei wirkte sie sehr verzweifelt und ohnmächtig. Mitunter klang es so, als wolle sie ausdrücken: «Versteht ihr denn nicht, wie ich leide? Helft mir doch!»

Probleme durch die demenzielle Entwicklung

Fast schien es so, als würde sie nur noch zwischen den Jahreshöhepunkten, ihrem Geburtstag im Dezember und den Feiertagen leben. Das Zusammenleben mit Frau L. auf der Wohngruppe und das Zusammensein im Seniorenatelier wurden zunehmend schwieriger. Die Mit-Bewohner/innen lehnten Frau L. ab, weil sie ihr Verhalten nicht nachvollziehen konnten. An manchen Tagen wollte Karin L. das Seniorenatelier am Abend nicht mehr verlassen. Sie weigerte sich strikt auf die Wohngruppe zurückzukehren, reagierte aggressiv oder mit Weinkrämpfen.

Die Situation wurde schliesslich unhaltbar. Die Verantwortlichen suchten nach einer für Frau L. passenderen Wohnform – und haben sie innerhalb in der Martin Stiftung gefunden.

Umzug und Neuanfang in einer spezialisierten Wohngruppe

Im Austausch mit der Wohngruppe und mit der Beiständin von Frau L. wurde beschlossen, Frau L. in langsamen Schritten auf einen Umzug in die Wohngruppe Topas vorzubereiten. Diese Wohngruppe ist auf Menschen mit einer demenziellen Entwicklung ausgerichtet und wird voraussichtlich im Herbst 2023 in das neue Wohnhaus Rütibühl umziehen.

Seit ihrem Umzug ist Frau L. ruhiger und ausgeglichener als früher und scheint zufrieden mit ihrer kleinen Welt. Dazu beigetragen hat einerseits die ruhige, reizarme Umgebung des Provisoriums (wo die 20 ehemaligen Bewohnerinnen vom Rütibühl zurzeit untergebracht sind), andererseits die Tatsache, dass im Wohnhaus oberhalb von Meilen, in ländlicher Umgebung, generell weniger los ist als im Haupthaus in Erlenbach. Zudem ist der grösste Teil der Bewohner/innen altersbedingt sehr gemächlich unterwegs.

Geschichte von Karin L. wurde aufgeschrieben von Cinzia Sartorio

Architektur-Entwurf für den Neubau Rütibühl der Martin Stiftung.

Lernen Sie das Neubau-Projekt Rütibühl kennen

Es entspricht der Philosophie und Tradition der Martin Stiftung, Menschen mit Behinderung bis an ihr Lebensende ein Zuhause zu bieten. Der Neubau Rütibühl schafft die Voraussetzungen dafür.

Die Gebäude liegen am Waldrand. Die ruhige, reizarme Umgebung ist ideal für die zukünftigen Bewohner/innen. Da die Orientierungsfähigkeit und die Sehfähigkeit von Menschen mit Demenz stark abnehmen, wird viel Wert auf Lichtkonzept und Farbgebung gelegt. Dem Bewegungsdrang von Menschen mit Demenz wird der naturnahe, gesicherte Garten gerecht.

Diese Wohnplätze für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und demenzieller Entwicklung sind rar. Genauso wie Plätze für Menschen mit Behinderung und herausforderndem Verhalten, zum Beispiel Menschen mit einer ausgeprägten Autismusspektrumsstörung. Im Neubau Rütibühl werden 32 Menschen leben.

Derzeit gibt es ein Spendenprojekt.
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Bild: Torvioll Jashari, Miriam Eckert, Unsplash